Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman.

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Eines ist garantiert: Wer diesen Roman liest, der geht mit anderen Augen durch Berlin.

Der denkt in der Rückerstraße (nahe Rosa-Luxemburg-Platz) an die „Rückerklause“, in der von früh bis spät Kartoffelpuffer gebacken wurden und in der sich manche Gäste den ganzen Tag herumtrieben, weil sie kein Zuhause hatten. Der denkt in der Ackerstraße an die Wärmehalle, in der Willi Kludas seine Windjacke vom Leib weg verkaufte, um ein paar Brötchen bezahlen zu können. Erst mal lieber frieren als hungern, dachte er sich.

Alexanderplatz, Kurfürstendamm, Herrmannplatz… Sie sind für den Leser zunächst einmal alle mit Geschichten aus dem Berlin der 30er Jahren verbunden. Denn zu dieser Zeit spielen die „Blutsbrüder“. Es ist – für viele zumindest – eine so bitter arme Zeit, dass sie ihre letzte Jacke verkaufen oder sogar stehlen müssen, um an etwas Essbares heranzukommen. So auch die Clique von Jonny, die im Mittelpunkt des Romans steht.

Walter, Erwin, Ludwig, Heinz – alle noch keine 21 Jahre alt und damit nach den Gesetzen noch nicht volljährig. Die Eltern haben sie nie kennen gelernt oder sie kümmern sich nicht. Dewegen kamen sie in Erziehungsheime, sind dort wieder ausgebüchst und streifen nun durch Berlin. Einerseits noch halbe Kinder, andererseits aber dem Rauchen, dem Saufen und mancher Schlägerei nicht abgeneigt.

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Ernst Haffners fast vergessener Roman ist jetzt, rund 80 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, zu einem großen Erfolg geworden. Die Feuilletons loben das Sittengemälde aus der späten Weimarer Republik. Das Buch hat es verdient – vielleicht nicht ganz so hymnisch, wie das mancherorts geschieht, denn es handelt sich eben nicht um ein Jahrhundert-Meisterwerk wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Aber es ist eine solide, meist unsentimental und deswegen anrührend erzählte Geschichte des Berlin vor dem Nationalsozialismus.

Stilistisch erinnert es an eine Reportage: „Der Mund des Mädchens öffnet sich: fast zahnlos, nur vereinzelte schwarze Reste. Und das Mädchen ist bestimmt noch keine sechzehn Jahre alt…“ (…) „Am Kronprinzenufer steht die Sandkiste B.A.T.G.2. Halbgefüllt ist sie. Willi klettert hinein und schließt den schweren Deckel über sich. Die letzte Zigarette raucht er, dann wühlt er sich in den feuchten Sand. Die große Stadt Berlin hat Willi Kludas ein erbärmliches Bett bereitet…“.

Interessant am Rande: Mann sieht wieder einmal, dass die Berliner schon in den 30er Jahren, noch lange vor den Mauerzeiten, mit einer unsichtbaren sozialen Mauer lebten: „Willi ist seit vier Jahren nicht im Westen gewesen. Und Ludwig hat die Tauentzienstraße nie gesehen“, heißt es.

Ernst Haffner, Blutsbrüder – Ein Berliner Cliquenroman, Walde + Graf bei Metrolit, 260 Seiten, 19,99 Euro  (Repros aus dem Buch)

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