Mama, Papa, Oma auf die Bühne – ein neuer Trend auf Berlins Bühnen?

Martin Nachbar: Repeater - Tanzstück mit Vater

Martin und Klaus Nachbar: Repeater – Tanzstück mit Vater

Die einzigen Menschen, von den wir uns niemals wirklich lossagen können, sind unsere Mütter, Väter und Großeltern. Wir tragen sie  unser ganzes Leben mit uns herum, selbst wenn sie schon längst gestorben sind.

Wir haben ihre Schwächen, ihre Stärken, ihre Eigenarten geerbt. Und wer am heftigsten behauptet, er sei anders als seine Eltern, dem macht  wohl in Wahrheit diese Ähnlichkeit am meisten zu schaffen. Gleich drei aktuelle Theater- und Tanzprojekte in Berlin befassen sich mit der familiären Herkunft der Darsteller.

Zu einer überregionalen Berühmtheit hat es in der Hinsicht längst das Kollektiv She She Pop gebracht. Hier sind wechselnde Familienaufstellungen sogar das Grundkonzept der Arbeit. Die Väter und Mütter der Schauspieler, allesamt nicht aus Theaterberufen stammend und längst im Ruhestandsalter, kommen als Darsteller mit auf die Bühne. In den Stücken geht es um die Eltern-Kind-Beziehung. Das klingt sehr theoretisch und langtmig. Es ist aber – so, wie es She She Pop macht –  anrührend bis komisch.

Vier Mütter, überlebensgroß

Vor Jahr und Tag waren es die Väter (Titel: „Testament“). Sie durften damals leibhaftig mit auf die Bühne. Es wurden so wichtige Fragen behandelt wie die, was einem Menschen im Alter übrig bleibt. Wie sehr er sich auf seine Kinder verlassen kann oder darf. Natürlich stand hier Shakespeares „King Lear“ Pate. Dieses Mal geht es im Hebbel am Ufer um die Mütter (Titel: „Frühlingsopfer“). Welche Opfer mussten sie bringen bei der Geburt und beim Aufwachsen der Kinder? Betrachten sie es überhaupt als Opfer? Wenn ja, wollen sie darüber reden? Die Mütter sind dieses Mal – und das ist ein interessanter Perspektivwechsel – nur auf der Leinwand präsent. Genauer: auf vier einzelnen Leinwänden. Sie spielen aber – überlebensgroß – umso lebhafter mit und werden von den Schauspielerinnen auf der Bühne ins Geschehen einbezogen.

Das neueste Stück von She She Pop lebt nicht nur von Worten, sondern auch von Tanz und Bewegung – nach Igor Strawinskis „Le Sacre du Printemps“. Eine hervorragende Ergänzung zum gesprochenen Text. So wie übrigens auch die Überblendungen der Gesichter von Müttern und Töchtern auf den Leinwänden. Und alles dient nur einem Zweck: Wir erleben unsere eigene, lebenslängliche Flucht vor dem Vorbild der Eltern und gleichzeitig auch die Vergeblichkeit dieser Flucht.

Vater-Sohn-Spiele auf Auslegeware

Komplett tänzerisch bewältigt Martin Nachbar seine Familiengeschichte („Repeater – Tanzstück mit Vater“). Gleich zu Beginn breiten Martin Nachbar und sein Vater Klaus auf der Bühne Auslegeware aus, hauptsächlich Perserteppiche. Schon das ist eine Hommage an die Kindheit. Und dann entfalten sie darauf eine Vater-Sohn-Geschichte. Der Vater blickt kritisch auf den Sohn, ob er die Teppichstücke auch gerade ausrichtet. Der Sohn ahmt die Bewegungen des Vaters nach, aber auch der Vater orientiert sich daran, wie der Sohn den Bühnenraum durchschreitet. Sehr viel abstrakter als She She Pop, die Darbietungen der beiden Nachbars, aber nicht weniger aufschlussreich für den Betrachter. Es ist auch ohne Worte sehr viel von Zuneigung, wachem Beäugen, Missverständnissen zu spüren.

Warum ein kleines Leben ganz groß sein kann

Wieder in einem ganz anderen Stil kommt die Familie in der Stückentwicklung „I love Italy and Italy loves me“ im Studiotheater der Hochschule Ernst Busch auf die Bühne. Es geht um das Leben, das Imperia und Gianni in ihrer 50-jährigen Ehe miteinander geführt haben. Das Leben einfacher Leute. Von außen betrachtet ohne große Höhpunkte: Arbeit, Kinder aufziehen, Familienfeiern, Tanzen als Hobby,  irgendwann die Rente. Es sind die Großeltern von Magali Tosato (Stückentwicklung und Regie). Sie tauchen erst zum Schlussapplaus leibhaftig auf der Bühne auf. Vorher sind sie in überlebensgroß Filmsequenzen eingeblendet. Als Leinwand dient passenderweise die Klinkerfassade eines 50er-Jahre-Hauses.

Die jungen Darsteller der Hochschule Ernst Busch spielen Szenen aus dem Leben Imperias und Giannis nach: vom Kennenlernen, von der Zeit als Gastarbeiter in der Schweiz, vom Ruhestand in Italien. Sie tun das auf gewohnt hohem Schauspielschulenniveau und holen damit für die Zuschauer die Jahrzehnte einer Ehe zurück. Und jeder stellt sich die Frage: Wie stellen es Menschen an, dass sie so lange zusammenbleiben und das für jeden erkennbar auch noch glücklich?  Ist es eine Mischung aus Liebe, Gewöhnung und Zufriedenheit? Vielleicht.  Aber letztlich muss sich jeder Zuschauer die Antwort darauf selbst geben. Mit einem haben wir es hier aber nicht zu tun: mit einer Schnulze. Obwohl sich nach der eineinhalbstündiger Liebesgeschichte auf der Bühne mancher eine Träne aus den Augen wischen musste.

Fazit: Drei höchst unterschiedliche, aber jeweils sehr gelungene Annäherungen an Familie. Zufall oder ein neuer Trend? Wir werden es sehen. Von uns aus: gerne mehr.

 

Mitwirkende „Frühlingsopfer“: Cornelia und Sebastian Bark, Heike und Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Irene und Ilia Papatheodorou, Heidi und Berit Stumpf, Nina Tecklenburg. Mitwirkende „Repeater – Tanzstück mit Vater“: Klaus Nachbar, Martin Nachbar. Mitwirkende: „I love Italy and Italy loves me“: Regie: Magali Tosato, Darsteller: Alexandra Martini, Friederike Nölting, Jan Gerrit Brüggemann, Pirmin Sedlmeir, Bühne und Kostüme: Franziska Keune. Dramaturgie: Lydia Dimitrow. Video: Jakob Klaffs und Martin Mallon, Musik:  Felicitas Conrad, Camille Phelep und Arian Stechert, Hans Block,