Wer zum Ende des Zweiten Weltkrieges zehn Jahre alt war, der ist heute schon 79 Jahre alt. Es werden täglich weniger Menschen, die die Schrecken des NS-Regimes noch aus eigener Erfahrung bezeugen können. Umso schwieriger, gleich sechs Opfer des Nationalsozialismus auf díe Bühne zu bringen – so wie bei dem Doku-Theaterstück „Die letzten Zeugen“ des Burgtheaters Wien.
Die große Bühne im Haus der Festspiele gehört an diesem Abend den Zeitzeugen. Ein zu harmloses Wort für Menschen, die verhaftet, gefoltert und gedemütigt wurden. Die von ihren Wohnungsnachnarn, mit denen sie jahrelang keinen Ärger gehabt hatten, plötzlich bespuckt wurden. Sechs von ihnen leben noch. Eine ist schon gestorben und nur noch in Fotos und Filmsequenzen dabei.
Marko Feingold ist der Älteste, er wird bald 101 Jahre alt. Einen Stock oder sonstige Gehhilfen braucht er nicht. Und wenn er über den Rassismus und das Neonaziwesen der heutigen Tage spricht, dann ist ihm sein Alter erst recht nicht anzumerken.
Doron Rabinovici und der (vormalige) Burgtheater-Intendant Matthias Hartmann hatten die Idee zu der Stückentwicklung. Es ist ein Multimedia-Abend geworden, der zweieinviertel Stunden lang sogar die üblichen Huster und Räusperer im Publikum stumm werden lässt. Einerseits sind da die Zeitzeugen, die im Hintergrund auf Stühlen sitzen. Ihre Texte und Erinnerungen werden von Schauspielern verlesen, während die Gesichter der Zeitzeugen im Großformat eingeblendet werden. Manchmal sind auch ihre Stimmen vom Band zu hören. Dazu kommen unzählige Fotos aus dem Wien des Nationalsozialismus und aus Konzentrationslagern. Ganz am Ende treten die Zeitzeugen nach vorne und verlesen selbst kurze Texte.
Es ist ein quälender Abend und das ist auch gut so. Die Zuschauer erfahren, wie Menschen von ihren Peinigern gezwungen wurden, mit Zahnbürsten das Straßenpflaster zu säubern. Wie sich „arische“ Nachbarn schamlos am Eigentum von Juden bereicherten. Es gar nicht einmal abwarten wollten, bis diese aus ihren Wohnungen vertrieben waren. Die Aussonderung in den Lagern, wo Mütter und Kinder, Ehepaare getrennt wurden. Die einen in den sofortigen Tod geführt, die anderen im KZ geschunden. Schier unfassbar dann auch noch die Schilderungen der Nachkriegszeit – als die Nazis in Österreich alles andere als ausgerottet waren und ihre vormaligen Opfer verhöhnten.
Das alles hat man irgendwo und irgendwann schon einmal gehört und gelesen. Aber es gewinnt noch einmal an Schrecken, wenn die Menschen, denen all das angetan wurde, vor einem auf der Bühne sitzen. Und mit ihrem eigenen Dasein das bezeugen, was da gerade von den Schauspielern vorgelesen wird. Nach den gut zwei Stunden im Theatersaal lassen sich die sechs Zeitzeugen dann auch noch im Foyer von den Zuschauern befragen. Übereinstimmend der Grund, den sie alle dafür nennen, warum sie sich das in ihrem Alter noch antun. Sie wollen die Stimme derer sein, die den NS-Terror nicht überlebten. Ihrer Brüder, Schwestern, Eltern, Onkel, Tanten, Großeltern.
Der bewegende Höhepunkt dieses Berliner Theatertreffens. Stehender Applaus aller Zuschauer. Ausnahmsweise auch der Schauspieler. Für die sechs Überlebenden des Holocaust.
Idee und Projektleitung: Doron Rabinovici, Matthias Hartmann. Mitwirkende: Lucia Heilmann, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard, Ari Rath, Ceija Stojka+ (Zeitzeugen). Mavie Hörbiger, Dörte Lyssewski, Peter Knaack, Daniel Sträßer (Schauspieler). Andreas Erdmann (Dramaturgie).