Die Toten hörten zu: Konzert im Krematorium

„Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen.“ Selten dürfte der Text eines Requiems an einem Aufführungsort so passend gewesen sein wie beim Konzert des RIAS-Kammerchores am Vorabend des Ewigkeitssonntages. Denn das fand im Berliner Krematorium am Baumschulenweg statt. Wenige Meter unter dem Podium, auf dem die Sängerinnen und Sänger standen, warteten gleichzeitig die Berliner Toten in ihren Särgen darauf, den letzten Weg anzutreten.

Manchmal ist es reine Effekthascherei, wenn Konzertveranstalter außergewöhnliche Aufführungsorte wählen. Beim RIAS-Kammerchor, der das selten gegebene lateinische Requiem des spanischen Komponisten Tómas Luís de Victoria (+1611) sang, kann man das wirklich nicht behaupten. Die große Eingangshalle des Krematoriums am Baumschulenweg war akustisch und thematisch das ideale Umfeld.

Dieses Krematorium haben die Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank entworfen. Ja, genau die, die auch das Kanzleramt planten. Die Ähnlichkeiten sind unübersehbar – schon von außen (siehe Bildergalerie) erinnert der Betonbau mit seinen Deckenleuchten stark an die Regierungszentrale.

Im Eingangsbereich haben sich die Architekten für einen Wald aus 29 Betonsäulen entschieden, der die Menschen nur noch ameisengroß erscheinen lässt. Kein schlechtes Umfeld, wenn es darum geht, sich Gedanken über die Ewigkeit zu machen. Vor allem dann, wenn man weiß, dass im tiefgekühlten Keller ein Stockwerk tiefer bis zu 650 Särge gelagert werden können, die automatisch (mit Strichcode versehen) zu den Verbrennungsöfen transportiert werden.

Aber der Aufführungsort alleine war es natürlich nicht, der beeindruckte. Das wäre bei aller Sympathie auch zu wenig. Der Kammerchor unter Leitung von Chefdirigent Hans-Christoph Rademann hatte das Requiem in einer Feinheit und Luzidität einstudiert, die es dem Besucher leicht machte, sich von einem diesigen Berliner Samstagabend gedanklich ein wenig der Ewigkeit anzunähern.

Sehr reizvoll ein Experiment: Auf dem Klavier und dem Vibraphon improvisierte Andreas „Scotty“ Böttcher zwischen den Sätzen von Victorias Requiem mit Jazz-Einlagen. Das unterbrach zwar den ruhig dahinfließenden Strom des Chorgesangs, den man durchaus gerne auch am Stück gehört hätte, eröffnete damit auch eine weitere, modernere Ebene der Meditation. Aus einer Stunde Requiem wurden so eineinhalb.

RIAS-Kammerchor: Chefdirigent Hans-Christoph Rademann; Chormitglieder: Janusz Gregorowicz, Ingolf Horenburg, Werner Matusch, Paul Mayr, Rudolf Preckwinkel, Andrew Redmond, Johannes Schendel, Jonathan de la Paz Zaens (Bass); Katharina Hohlfeld, Mi-Young Kim, Anette Lösch, Sabine Nürmberger, Anja Petersen, Stephanie Petitlaurent, Inés Villanueva, Dagmar Wietschorke (Sopran); Ulrike Bartsch, Andrea Effmert, Waltraud Heinrich, Susanne Langner, Franziska Markowitsch, Claudia Türpe, Hildegard Rützel, Marie-Luise Wilke (Alt); Volker Arndt, Joachim Buhrmann, Wolfgang Ebling, Jörg Genslein, Christian Mücke, Volker Nietzke, Kai Roterberg (Tenor)