Am liebsten lese ich die Obituarien. Kann ich nur zur Nachahmung empfehlen.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Der Fachbegriff heißt Obituarien. Kennt ihn jemand? Nur die wenigsten, vermute ich. Man kann es auch anders nennen: Nachrufe. In der deutschen Presse wird diese journalistische Darstellungsform eher stiefmütterlich behandelt. Bis auf eine Ausnahme in Berlin. Der Tagesspiegel veröffentlicht jede Woche am Freitag eine Seite mit drei, manchmal auch nur zwei Nachrufen. Das sind keine Lobhudeleien auf kürzlich Verstorbene, sondern gut geschriebene Porträts, die auch die Schattenseiten im Leben dieses Menschen nicht ausklammern. 100-Jährige sind genauso vertreten wie Jugendliche, die einen sehr frühen Tod sterben mussten. Wir erfahren etwas über erfolgreiche Geschäftsmänner. Aber auch etwas über Menschen, denen im Leben scheinbar gar nichts gelingen wollte. Auf Fotos verzichtet man – und das ist gut so, denn die Bilder zu diesen Geschichten entstehen im Kopf des Lesers. Da wäre es schade, wenn (schlecht gemachte) Passfotos den Eindruck stören. Statt dessen wird die Seite „Nachrufe“ optisch von wechselnden, stimmungsvollen Fotos aus Berliner Friedhöfen dominiert. Ganz oben steht – immer – das Motto des Unternehmens „Vorbei – ein dummes Wort“ von Johann Wolfgang von Goethe.

Im angelsächsischen Raum wird den obituaries in den Zeitungen (und auf deren Internet-Auftritten) sehr viel mehr Raum gegeben. Vorbildhaft ist die New York Times, die ihre Nachrufe auf Prominente und Halbprominente sogar einmal jährlich in Buchform herausgibt. Aber selbst Regionalblätter wie der „Arlington Advocate“  in Massachusetts und der „Desert Dispatch“ in Kalifornien pflegen ihre kurzen obituaries. Alle Untersuchungen beweisen: Diese Rubriken gehören zu denen, die in den Zeitungen am meisten gelesen werden. Immer wieder ist davon die Rede, dass es in den Redaktionen ganze Obituarien-Archive gibt. Man weiß ja nie, wann der Tag kommt, an dem ein Prominenter die Erde verlässt. Der Nachruf auf die Schauspielerin Elisabeth Taylor lag angeblich schon 12 Jahre vor ihrem Tod vor und musste immer wieder erneuert werden.

Nekrologe gibt es in der Geschichte der Literatur schon sehr lange, die Wurzeln reichen bis in die Antike zurück. Damals wurden sogar eigene Regelwerke dafür verfasst. Im todesverliebten Barockzeitalter wurden schwergewichtige Sammlungen mit Leichenreden herausgegeben. Wer sie heute liest, der gewinnt einen besseren Einblick in die Zeit als bei manchen dramatischen und lyrischen Werken. Und bei uns heute? So, wie wir den Toten selbst am liebsten nicht mehr sehen wollen, ersparen wir uns auch die Mühe der Obituarien. Nur noch die wichtigsten Politiker, Künstler, Sportler und Wirtschaftsbosse dürfen damit rechnen.

2 Kommentare zu “Am liebsten lese ich die Obituarien. Kann ich nur zur Nachahmung empfehlen.

  1. Da kann ich nur zustimmen! In Kanada gibt es ausführliche obituaries in jedem kleinen Dorfblatt und die lese ich auch am liebsten. Das Leben des Verstorbenen wird gewürdigt und ich habe noch nie gelesen „von Beileidsbezeichnungen bitten wir Abstand zu nehmen“…
    Was mir auch gefällt, ist dass es hier meist keine „normale“ Beerdigung gibt, sondern eine Celebration of Life. Das setzt schon einen ganz anderen Ton.

  2. Ich fürchte, mit der Celebration wird es bei uns noch lang dauern. Wäre ja schon mal ein Fortschritt, wenn wir die obituaries bekämen. Die sind übrigens – beim Tagesspiegel – sprachlich und inhaltlich auf sehr hohem Niveau. Viele Grüße von Berlin nach Kanada!

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.