Eine der härtesten Geduldsproben, vor welche die Berliner Theaterbesucher jemals gestellt wurden, fand im Maxim-Gorki-Theater statt. Da begann eine Bühnenfassung von Thomas Manns Zauberberg mit zehnminütigem Schweigen.
Die Schauspieler lagen auf den Sanatoriumsliegen in ihren Wollplaids und keiner sagte etwas. Die Drehbühne drehte sich, der Bühnenschnee fiel herab. Mehr passierte nicht. Warum? Damit man als Zuschauer das Verrinnen der Zeit auch wirklich spüren kann, denn das spielt in dem Roman eine zentrale Rolle. Manche Theaterbesucher vertrugen das nur sehr, sehr schlecht. Schon nach zwei, drei Minuten begannen sie… zu plappern. Über die Familie, die Firma und den anschließenden Kneipenbesuch. Der Mensch von heute kann es offensichtlich nicht aushalten, länger als zwei Minuten zu schweigen. Er empfindet es als eine Unverschämtheit, das von ihm zu verlangen.
Auch während des Stücks, wenn im Theater auf der Bühne kurzfristig mal nichts gesprochen wird, fangen sofort die ersten mit dem Schwätzen an. Fast schon eine Selbstverständlichkeit ist es inzwischen in den Theatern, dass man so lange vor sich hinschnattert, bis zu Beginn des Stücks der Vorhang vollständig gehoben wurde. Ein (ruhiges) Einstimmen auf das, was da gleich gezeigt werden soll, gibt es so gut wie nirgends mehr. Egal ob sich die Inszenzierung um Völkermord, Vergewaltigung oder Inzest dreht – man muss sich bis in die ersten Worte der Schauspieler hinein noch darüber austauschen, wohin der nächste Urlaub geht oder wie man die Käsespätzle so richtig kross zu Stande bringt.
Von den Schlimmsten habe ich noch gar nicht geredet – von denen, die alle Hemmungen verloren haben und nicht nur in den Sprechpausen, sondern auch während der Bühnendialoge plaudern. Mein Schulfreund Peter hat einmal ein Programmheft zusammengerollt und es dem vor ihm sitzenden Plapperlieschen auf den Kopf geschlagen. Ich bewundere ihn noch heute für seinen Mut.
Schöner als der Schriftsteller und Schauspieler Curt Goetz (+ 1960) kann ich es nicht sagen. Darum zum Schluss ein Zitat von ihm:
„Eine Gelegenheit, den Mund zu halten, sollte man nie vorübergehen lassen.“
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