
Die Bühne als Zuschauerraum und der Zuschauerraum als Bühne. So will es Regisseur Christoph Marthaler an der Berliner Staatsoper.
Um gleich mit dem bewegendsten Moment des Abends anzufangen. Das war der Schluss. Da lässt Regisseur Christoph Marthaler zwei Gruppen von Schauspielern bzw. Musikern im Gänsemarsch durch das weite, leere Halbrund des Zuschauerraumes im Schillertheater gehen und dabei Felix Mendelssohn-Bartholdys „Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig“ singen. Schließlich verlassen sie den Saal, singen aber weiter, bis sich ihre Stimmen im Nichts verlieren. Das Publikum lauscht dem Gesang bis zum letzten noch vernehmbaren Ton nach. Keiner steht auf, keiner raschelt mit Papierchen, keiner hüstelt.
Chorgesang inszenieren – je nach Bedarf monoton, schrill, schleppend, eindringlich. Das kann Christoph Marthaler so gut wie kein anderer. Deswegen macht er auch in seinem Projekt „Letzte Tage. Ein Vorabend“ davon Gebrauch. Es geht in diesem Stück, wie so oft in diesem Jahr auf europäischen Bühnen, um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Das ist aber nur ein sehr formaler, oberflächlicher Ansatzpunkt für den Regisseur. Viel mehr kommt es ihm darauf an, den alltäglichen Rassismus und Antisemitismus und die tief sitzende Fremdenfeindlichkeit zum Thema zu machen.
Marthaler hat eine bunte Collage an Texten gesammelt, einer gruseliger als der andere. Da wird eine Rede des Judenhassers und Wiener Bürgermeisters Karl Lueger zitiert, aber auch zeitgenössische, kaum menschenfreundlichere Aussagen einer österreichischen FPÖ-Politikerin und des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban. Es ist ein Verdienst des Regisseurs, dass er die Hassreden aus Vergangenheit und Gegenwart miteinander vermengt hat. Da kann erst gar niemand auf die Idee kommen, das habe sich alles längst erledigt.
Auf einer zweiten Ebene des Projekts gibt Christoph Marthaler den Verfolgten und Verfemten selbst Raum. Er hat Stücke von vergessenen jüdischen Komponisten wie Viktor Ullmann, Alexandre Tansman und Fritz Kreisler ausgewählt, vom Schlager bis zum Streichquartett, und lässt sie von der Wienergruppe aufführen. Den ganzen Abend über wechseln sich diese Kompositionen und die kaum erträglichen Hetzreden ab. Leider kann der Zuschauer/Zuhörer oft keinen Bezug herstellen, weswegen das gut zweistündige Stück ziemlich auseinander fällt. Der Premierenapplaus in Berlin fällt deswegen nicht gerade unfreundlich, aber doch eher dürftig aus.
Vielleicht liegt es auch daran, dass der Ort der Uraufführung sehr viel authentischer war. Es handelte sich um das Parlament in Wien, den Schauplatz vieler rassistischer und antisemitischer Reden. Marthaler ließ dort seine gemischte Schauspieler- und Sängtertruppe über die Abgeordnetenbänke hinweg turnen. Das Publikum setzte er auf die gegenüberliegende Seite. Dort, wo sich früher das Rednerpult befand. Denselben Kunstgriff versuchte er nun im Berliner Schillertheater. Er wandelte die Bühne in den Zuschauerraum um (mit nicht allzu bequemen Notsitzen) und verwendete die Zuschauerplätze im Parkett und auf dem Rang als Bühne. Nicht unorginell, wenn man als Zuschauer mal dort sitzt, wo normalerweise die Schauspieler stehen. Aber den Reiz eines historischen Plenarsaals kann das Schillertheater beim besten Willen nicht bieten.
Mitwirkende: Bendix Dethleffsen, Bettina Stucky, Christoph Marthaler, Clemens Sienknecht, Duri Bischoff, Hsin-Huei Huang, Josef Ostendorf, Katja Kolm, Martin Veszelovicz, Michael von der Heide, Michele Marelli, Nelson Etukudo, Sarah Schittek, Silvia Fenz, Sophie Schafleitner, Thomas Wodianka, Tora Augestad, Ueli Jäggi, Uli Fussenegger