Der Lerneffekt scheint nicht sehr groß gewesen zu sein. Kaum war der Premierenapplaus verklungen, holten die Zuschauer ihre Smartphones aus der Tasche und warfen einen Blick darauf. Es könnten ja einige interessante neue Postings bei Facebook eingegangen sein. Die Aufführung hatte schließlich knapp zwei Stunden gedauert.
Falk Richter, der innovative Autor und Regisseur der Schaubühne (Trust, Protect me), hat wieder einmal zugeschlagen. „Never Forever“ heißt das Stück, dessen Uraufführung auch der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Klaus Wowereit miterleben wollte. Selbst wenn er vermutlich kein solcher Timeline-Neurotiker ist wie wir, die wir alle fünf Minuten online sein müssen, um nichts zu versäumen, was sich da draußen in der virtuellen Welt ereignet haben könnte.
Natürlich macht Falk Richter kein Grips-Theater aus dem Thema. Sein Markenzeichen ist die Verschränkung von Textcollagen und Tanzstücken. Die Grenzen zwischen Schauspiel und Tanztheater sind aufgehoben. Im Laufe des Abends vergisst der Zuschauer gelegentlich sogar, wer von den Akteuren nun eigentlich der gelernte Schauspieler ist und wer Tanz studiert hat. Sie alle robben über die Bühne, rennen gegen Wände, klettern die Kulissen hoch.
Worum geht es? Um die Degenerationen unserer Social-Media-, Selfie-, Selbstvermessung- und Optimierungswelt. Das klingt – hier niedergeschrieben – weit theoretischer, als es im Stück zu erleben ist. Da begegnen wir zum Beispiel einem Professor, der darüber verzweifelt, dass seine Studenten auch während der Vorlesung in Wahrheit meistens nicht bei ihm, sondern bei ihren virtuellen Freunden sind. Der vergebens darauf hinweist, dass das gelebte Leben unsere Story sein sollte und nicht die Timeline. Die Figuren in „Never Forever“ sind durch die Bank nicht glücklich. Ja, man muss sogar sagen, es sind häufig sogar ziemliche Soziopathen.
Beim ersten Blick auf die Besetzungsliste konnte man erstaunt darüber sein, dass sich darauf auch Ilse Ritter findet. Eine Grande Dame der deutschen Bühne, die heuer 70 Jahre alt wurde, im wilden, wuseligen Tanztheater à la Falk Richter? Der Autor/Regisseur hat ihr eine ganz besondere Rolle zugedacht. Sie verkörpert die analoge Welt, die von den verzweifelten Bewohnern der digitalen Welt um Rat gebeten wird und diesen auch erteilt. Sie darf sogar den Gretchen-Monolog aus Goethes Faust vortragen, was bei fast jeder Akteurin außer Ilse Ritter allerhöchsten Kitsch-Alarm auslösen würde.
Fazit: Ein stellenweise starkes, mitreißendes Stück – vor allem bei den Monologen von Regine Zimmermann und Kay Bartholomäus Schulze, aber auch bei drei, vier Tanzszenen von elementarer Gewalt. Aber am Ende ist der Zuschauer dann doch froh, dass die Welt draußen nicht so ist wie die auf der Bühne. Selbst wenn er gleich nach dem Schlussapplaus das Smartphone zückt und damit beweist, dass auch er schon ein wenig infiziert ist.
Text und Regie: Falk Richter, Choreographie: Nir de Volff / Total Brutal, Mitwirkende: Florian Bilbao, Katharina Maschenka Horn, Johanna Lemke, Ilse Ritter, Chris Scherer, Kay Bartholomäus Schulze, Tilman Strauß, Regine Zimmermann