Kunst am Wegesrand (2): Eine Brücke mit Geländerpiercing

95 Prozent der Passanten fällt das Kunstwerk erst gar nicht auf. Jede Wette darauf. Aber gerade das ist der Reiz an dem Bronzering, den Norbert Radermacher (*1953) vor bald 30 Jahren an der Potsdamer Brücke über den Landwehrkanal angebracht hat.

Schlichter geht es kaum. Der Ring umfasst einige Segmente des gelben Geländers. So, als ob sich die Brücke ein Piercing zugelegt hätte. Man sieht den Ring und sieht ihn gleichzeitig nicht, weil er so unscheinbar ist wie eine vergessene technische Gerätschaft. Er schreit einem nicht entgegen „Ich bin Kunst, beachte mich!“. Tausende Autos fahren täglich daran vorbei, dazu kommen mindestens ebenso viele Radler, Fußgänger und diejenigen, die mit einem Ausflugsschiff unter der Brücke durchfahren. Auch von dort kann man den Ring gut erkennen.

Seit den 80er Jahren (am Rande der Ausstellung 1945 bis 1985 – Kunst in der Bundesrepublik Deutschland“ in der nahen Neuen Nationalgalerie) gehört der Ring zum Stadtbild. Er ist etwa gleich groß wie der wenige Meter entfernte  rot-weiße Rettungsring, den man auf allen größeren Berliner Brücken findet . Niemanden interessiert es inzwischen noch, dass das Bronzeobjekt ursprünglich mal ohne Genehmigung angeschweißt worden war. Bei Sanierungsarbeiten wurde er in den 90ern sogar mal entsorgt, weil er die Handwerker störte und sie sich beim besten Willen den Sinn dieses Objekts nicht erklären konnten. Gleich danach wurde an derselben Stelle eine Kopie angebracht. Dieses Mal mit behördlicher Genehmigung.

So wie der Ring an der Potsdamer Brücke fügen sich auch viele andere Arbeiten Radermachers unscheinbar ins Stadtbild ein. Der Künstler wählt Orte abseits von Galerien und Museen. Er setzt auf den Überraschungseffekt, wenn denn mal jemand mitten im Alltagstrott bemerkt, dass sich hier etwas befindet, was eigentlich gar nicht hinzugehören scheint. Radermacher sagte 1987 zu seinen Arbeiten: „Gegen die Dimensionen der Stadt sind die Stücke klein. Wie der Rettungsring auf dem Ozeanriesen. Letztlich kann man sich nur daran festhalten.“

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