Wir sind alleine, mein Telefon und ich. Um uns herum bilden vier Jalousien mit geschlossenen Lamellen eine Art Kabine. Und plötzlich läutet es.
So beginnt das Erlebnis- und Mitmachstück „Callcenter übermorgen“ der Gruppe InterroBANG in den Sophiensälen. Geschätzte 50 Gäste sitzen in ihren Einzhelkabinen und warten auf einen Anruf. Als sie dann endlich abheben dürfen, werden sie von der Telefonstimme begrüßt und immer wieder vor Entscheidungen gestellt. Wollen sie in den Süden reisen oder in die Schweiz? Ich wähle die Schweiz. Will ich ein Gebirgspanorama betrachten oder etwas über die Geburt eines Kalbes erfahren? Ich wähle das Gebirgspanorama. Nach Kalbsgeburten ist mir an Abenden nach einem langen Arbeitstag nicht. So geht es fast 90 Minuten lang. Immer wieder wählen. Drücken Sie die eins, die zwei, die drei.
Zwischendrin werden Konferenzschaltungen zwischen den Telefonen veranstaltet. Man spricht mit einem oder mehreren Teilnehmern der Veranstaltung, ohne sie zu sehen. Ich diskutiere mit einem Musiker über das Schlagzeugspielen und muss mich dann mit ihm darauf einigen, welches der drei angebotetenen Gerichte von der (virtuellen) Speisekarte wir gemeinsam essen wollen. Von einer Frau, die ich danach spreche, erfahre ich, dass sie auf ihrer (virtuellen) Reise eine Gondelfahrt in Venedig mitmachte, vom Boot sprang und ins offene Meer schwamm.
Und was soll das ganze? Wir sollen darüber nachdenken, ob und wie oft wir im Leben wirklich freie Entscheidungen treffen können. Wie sehr die eine Entscheidung alle folgenden beeinflussen kann. Was geschieht, wenn wir aus einem System ausbrechen wollen. Ob wir das überhaupt können. Auf der unterhaltsamen Telefon-Reise werden immer wieder Stimmen aus Filmklassikern eingespielt. Dann erklärt uns plötzlich die Philosophin Hannah Arendt, was es mit der Freiheit und politischem Handeln auf sich hat.
Am Schluss heben sich all die Jalousien und man sieht die anderen Gäste von „Callcenter übermorgen“ – allerdings ohne zu wissen, wer denn diejenigen waren, mit denen man telefoniert hat. Der Denkanstoß scheint gewirkt zu haben, denn erstaunlich viele Besucher diskutieren noch lange nach dem Schlussapplaus miteinander.
Von und mit: Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg; Konzeptionelle Mitarbeit: Andreas Liebmann, Martin Schick; Dramaturgie: Kaja Jakstat; Telefoninstallation: Georg Werner; Musik und Sound: Friedrich Greiling; Bühne und Kostüm: Sandra Fox
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