Einige 100 Menschen sitzen und stehen in der großen Halle des Radialsystems herum. Sie warten auf den Beginn der Aufführung. Das Spannende daran: Gut 50 von ihnen sind Mitglieder des Berliner Rundfunkchores. Sie sind über den gesamten Raum verteilt. Doch man erkennt sie nicht, bevor sie anfangen zu singen.
Johannes Brahms Deutsches Requiem dürfte selten so avantgardistisch dargeboten worden sein wie im Radialsystem. Es begann schon am Eingang zu dem Konzertereignis: Die Besucher wurden gebeten, die Halle nur mit Strümpfen oder Barfuß zu betreten, weil das Absatzgeklappere beim Herumgehen während des Konzerts während der leisen Passagen dann doch gestört hätte.
Als es beginnt, bin ich dann doch etwas irritiert, weil rechts hinter mir eine Frau zu singen beginnt – eine Richtung, aus der normalerweise bei einer Aufführung kein Gesang zu erwarten ist.
Es ist fast alles erlaubt während der 80-minütigen Darbietung: Die Zuschauer dürfen sich hinlegen und auf den Boden oder auf ein paar Tribünenplätze setzen. Sie dürtfen aber auch herumgehen. Wenn sie ausnahmsweise mal im Wege stehen, werden sie diskret zur Seite gebeten. Die Chormitglieder gruppieren sich immer wieder neu im Raum. Mal durchschreiten sie ihn, mal sammeln sie sich um den Chefdirigenten Simon Halsey, mal sitzen sie auf Schaukeln, die von der Decke herabgelassen wurden, mal steht ein Solist auf einem Gerüst hoch über den Zuhörern
Alles nur ein Inszenierungs-Gag? Hat das ernsthafte Musik wie die von Johannes Brahms wirklich nötig? Das vielleicht nicht gerade, aber dieses Hörerlebnis ist wirklich sensationell. Es ist eine Art Dolby surround mit Livegesang. Wann erlebt man es schon mal, der Musik entgegen zu gehen, sich von ihr wegzubewegen oder von ihr regelrecht umzingelt zu werden. Wann scheiden sich die Stimmlagen schon mal so deutlich voneinander wie hier, wo – zum Beispiel – die versammelten Tenöre an einem vorüber ziehen.
Und nicht zuletzt ist das bereits 2012 erstmals dargebotene Requiem-Projekt der Beweis für etwas anderes: dass der Berliner Rundfunkchor unter der Leitung von Simon Halsey einer der innovativsten deutschen Chöre ist. Das konnte man schon oft erleben. Sogar im Techno-Club Berghain traten die Sängerinnen und Sänger 2010 schon auf. Mit denkbar schwieriger Kost, nämlich Gustav Holsts Planeten. Auch das war ein grandioser Erfolg.
Mitwirkende: Simon Halsey (Chefdirigent), Marlis Petersen, Konrad Jamot (Solisten), Philip Moll, Philip Mayers (Klavier), Nicolas Fink (Co-Dirigent), Jochen Sandig (Konzept/Regie), Ilka Seifert, Sasha Waltz (Dramaturgie), Brad Hwang (Raum), Jörg Bittner (Licht).
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