Das öffentliche Hören von Musik, insbesondere klassischer Musik, ist mit vielen Konventionen verbunden. Das geht heute fast nur, indem man einen Konzertsaal aufsucht und dort ab 20 Uhr ein, zwei Stunden wie festgenagelt auf einem Stuhl sitzen bleibt. Für Kinder, Menschen mit Bandscheibenvorfall und für unruhige Geister ist das eine rechte Qual.
Im Berliner Radialsystem werden die althergebrachten Sitten im Bereich klassischer Musik seit einiger Zeit komplett in Frage gestellt. Da lädt man zu Kammerkonzerten erstens zu ungewöhnlicher Zeit (kurz vor Mitternacht), zweitens an einen ungewöhnlichen Ort (ein Studio hoch über der Stadt, ohne Sitzgelegenheiten) und drittens bei ungewöhnlicher Beleuchtung (es ist bis auf die Lampen an den Notenpulten der Musiker dunkel).
Den Besucher erwarten Yogamatten und Kissen, auf denen er sich niederlassen und seine geeignete Zuhörposition wählen darf. Die einen liegen auf dem Bauch, die anderen auf dem Rücken, die dritten in stabiler Seitenlage. Dann werden vom Personal die Stehlampen ausgeschaltet, die vorher zur Orientierung dienten, und die Zeit für Domenico Scarlatti, Franz Schubert, Salvatore Sciarrino ist gekommen – in diesem Falle mit Dea Szücs (Violine), Grégoire Simon (Viola) und Boram Lie (Cello) als Interpreten.
Um es gleich zu sagen: Die Sache ist durchaus gewöhnungsbedürftig. Menschen, die einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich haben, gleiten in einer allzu bequemen Stellung schon mal in den Schlaf hinüber. Das ist zwar nicht verboten, bringt einen aber um den Musikgenuss. Und diejenigen, die wach bleiben, sehen in der bequemen Rückenlage – logischerweise – nicht die Musiker, sondern die Heizungs- und Entlüftungsrohre an der Decke (siehe Fotogalerie unten). Dann vielleicht doch lieber der Schneidersitz?
Experimentelle Reihen wie „klassisch abhängen“, „Nachtmusik“ und „The art of listening“ sind im Radialsystem stets gut ausgebucht. Weitere Versuchsanordnungen werden nicht ausgeschlossen. Jetzt bereits gibt es Konzerte, vor denen man Yoga-Unterweisungen erhält. Oder bei denen man zwischen einem (Sitz-)Platz im Saal und einem Liegestuhl an der nahen Spree (mit Lautsprecherübertragung) wählen kann. Ideal für Paare, bei denen einer ein großer und der andere ein nicht ganz so großer Fan klassischer Musik ist.
Andere originelle Aufführungsorte:
Alice im Wunderland … äh … im Karstadt Neukölln
Der Weltuntergang im Kreuzberger Kellerflur
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